Seit 14 Jahren wohnen wir mit unserem Nachbarn Wand an Wand. Als Kind kam er mir immer ein wenig unnahbar vor. Inzwischen begreife ich, dass hinter der äusseren Fassade viel mehr steckt. Trotz bescheidener Umstände und der Herausforderungen seines Alltags führt er ein sehr eigenwilliges Leben. Er selbst bezeichnet sich als „unbelehrbar“, wobei er nie seinen jugendlichen Leichtsinn verloren hat. Beim Gedanken an ihn kommen mir unzählige Kindheitserinnerungen, Aufruhr und Musik in den Sinn. Musik, die von Zeit zu Zeit lauter wurde und mich nachts nicht schlafen liess. Sein Verhalten sehe ich heute jedoch mit anderen Augen. Auf mich wirkt es wie ein Versuch, sich für einen Moment von seinem eigenen Sein zu lösen - Augenblicke, in denen er alles andere ausblendet und kurzzeitig vergisst. Er kümmert sich wenig darum, was andere von ihm denken und genau das macht ihn zu dem Menschen, der er ist.

Heute blicke ich auf das Vergangene zurück und weiss, dass er mit seiner Art auch viel zu meinem eigenen Leben beigetragen hat. Trotz unserer Fremdheit war er immer irgendwie da, nur durch eine Wand getrennt. Die Unruhe überdeckte oft für einen Moment die Stille unseres Dorfes und meine eigene Realität, was mich nicht mehr stört, sondern Teil vom Ganzen geworden ist.

Tanja Schätti